Wendelin Wiedeking: Das Davidprinzip, Verlag Klaus Wagenbach
Rezzo Schlauch
David in Zuffenhausen
Es gibt kaum jemand, der sich der Faszination der alttestamentarischen, immer wieder aufs neue hochspannenden Konstellation David gegen Goliath entziehen kann. In Geschichte und Politik, in der Kultur, im Sport und in der Wirtschaft, überall dort, wo Wettstreit und Wettbewerb stattfinden, ist dieser Mythos eine unerschöpfliche Antriebsfeder des menschlichen Handelns.
Nicht ohne weiteres drängt sich in diesem Zusammenhang der Gedanke an die Zuffenhausener Porsche AG und ihren so erfolgreichen Konzernlenker auf. Steht David nicht für diejenigen, die sich ganz allein mit einer nach menschlichem Ermessen nicht bezwingbaren Übermacht anlegen? Paßt dazu die weltweit bekannte Luxusmarke Porsche und die damit verbundene außergewöhnliche Erfolgsgeschichte des Wendelin Wiedeking? Auf den ersten Blick eher nicht. Oder vielleicht doch?
Wer, wie ich, aus Stuttgart kommt, dem fällt zuerst die topographische Lage der Firma ins Auge im Tal von Zuffenhausen, einem traditionellen Stuttgarter Industrie- und Arbeiterviertel. Dort ist Porsche schon lange angesiedelt und hat alle Wandlungen der Marke, des Landes und des Weltmarktes überstanden, ohne nach dem steilen Aufstieg der Versuchung nachzugeben, einen anderen Standort oder einen Baustil zu wählen, der dem Image eines Luxusartikelherstellers vielleicht angemessen erscheinen könnte. Und wer, wie ich, aus Stuttgart kommt, denkt auch sogleich an den anderen Automobilhersteller auf der anderen Seite des Neckars, in Bad Cannstatt und in Untertürkheim: Dieser Weltkonzern heißt seiner Größe und seiner geographischen Verteilung entsprechend nicht mehr Daimler-Benz, sondern Daimler Chrysler. Die Konzernleitung wurde nach Möhringen in die Nähe des Stuttgarter Flughafens verlegt, von wo aus der zweite Firmensitz in Auburn Hills mit dem firmeneigenen Airbus schnell zu erreichen ist. Hier die in die Zuffenhausener Umgebung eingepaßte Zentrale, direkt neben dem Hauptfertigungsort, dort die Headquarters der Big Players, abgetrennt und örtlich weit entfernt von den Fertigungshallen. Sind wir da nicht schon bei David und Goliath?
Wer sich dann noch vor Augen hält, daß Ferrari, Maserati, Jaguar, Lamborghini und alle anderen Hersteller von traditionellen Luxussportwagen ihre Eigenständigkeit längst an einen dieser großen Spieler auf dem Weltautomobilmarkt verloren haben, dem liegt der Gedanke, von David zu sprechen und damit die Porsche AG sowie ihren Chef zu meinen, gar nicht mehr fern. Wie ist es denn nur gelungen, diese Eigenständigkeit zu bewahren und trotzdem so erfolgreich zu sein?
Wendelin Wiedeking ist, so scheint es, vor über zehn Jahren mit einer Idee nach Zuffenhausen gekommen, wie der Konzern trotz der übermächtigen Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu retten sei, und diese Idee hat er gemeinsam mit seinen Mitarbeitern in die Tat umgesetzt. Von der Firma, die rote Zahlen schrieb und über der der Pleitegeier kreiste, ist das Unternehmen zum Rekordhalter für Aktienkurse in der Autobranche avanciert. Ein rasanter Aufstieg, der die Renaissance einer Luxusmarke mit sich brachte: Man fahrt wieder Porsche, heutzutage. Was steckt hinter dieser Erfolgsgeschichte? Was ist das Davidprinzip hinter diesem David?
Der biblische David hatte bei allem Gottvertrauen fünf Steine in der Tasche, als er gegen Goliath antrat. In einer amerikanischen Auslegung seiner Geschichte habe ich einmal gelesen, daß diese Tatsache für viele Missionare ein großes Rätsel sei. Warum nicht nur den einen Stein für den einen Gegner, der ja nur scheinbar übermächtig war? Hegte David etwa doch einen leisen Zweifel an der Prophezeiung Gottes? Hatte er deshalb Vorsorge getroffen für den Notfall? Die Exegeten lösten das theologische Problem ganz einfach: Da Goliath noch vier Brüder hatte und David fürchtete, diese könnten ihn ebenfalls angreifen, nahm er fünf Steine mit in den Kampf. Aber ich glaube, es gibt noch eine andere Erklärung. David zeigt uns, worin seine Klugheit, seine »prudentia«, besteht: Um ein Ziel zu erreichen, braucht man nicht nur das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sondern auch die angemessenen Mittel, und diese variieren je nach der Anforderung, vor die man gestellt wird. Genau diese Form der Klugheit ist es, die Wendelin Wiedeking auszeichnet: eine »prudentia oeconomica«, angepaßt an die Erfordernisse unserer dynamischen Gesellschaft und globalisierten Wirtschaft.
Das Ziel war für ihn eindeutig: die Eigenständigkeit der Firma zu erhalten und damit die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Übernahmeangebote - Gerüchte darüber gab es in Mengen - lehnte er strikt ab, und wo sie real waren, wehrte er sich: »Als Vorstand bin ich doch nicht nur den Aktionären verpflichtet, sondern muß zugleich die Interessen meiner Belegschaft und meiner Kunden im Auge haben. Ich glaube nicht, daß es meinen Kunden egal ist, ob Porsche selbständig ist oder nur noch eine gigantische Marketingabteilung eines Großkonzerns. Darauf muß ich als Unternehmensführer doch achten. Und wenn ich im Interesse von Aktionären, Mitarbeitern und Kunden bessere Ideen habe für die Zukunft des Unternehmens als ein Übernahmeinteressent, muß ich mich doch wehren können.« Nach diesem Prinzip handelte Wiedeking 1992, und danach handelt er noch heute, wenn er die Pläne der EU-Kommission, die Vorstandsmitglieder bei Übernahmeversuchen durch fremde Unternehmen zum Stillhalten zu verpflichten, bekämpft.
Es galt also, die Eigenständigkeit zu bewahren, und das ging nur, wenn der Erfolg sich wieder einstellte. David steckt sich fünf Steine in die Tasche, denn er weiß, seine Chance liegt in der Anwendung dessen, was er kann, im Steineschleudern, und besteht darin, diese Fähigkeit möglichst geschickt und überraschend einzusetzen. Wendelin Wiedeking paart sein an sich konservatives Ziel, den Erhalt der Selbständigkeit, mit einem radikalen Denken darüber, wie dieses zu erreichen sei. Er wußte, was Porsche besser machte als andere: In der Entwicklung und im Bau von hochwertigen Sportwagen war die Firma kaum zu übertreffen. Jetzt benötigte er einen Weg, wie dieser technische Vorteil in der neuen Zeit und unter den veränderten Marktbedingungen umgesetzt werden konnte. So reiste er nach Japan, um einen Spezialisten für Lean Production zu konsultieren und diesen nach Zuffenhausen zu bringen. Nach seiner Ankunft schockte der japanische Experte Chiharo Nakao die versammelten Ingenieure und Arbeiter, als er angesichts der Produktionsanlage fragte: »Wo ist die Fabrik? Das hier sieht aus wie das Warenlager.«
Wendelin Wiedeking und seine Innovationen brachten ihm nicht nur Freunde, aber
sie brachten das Entscheidende, den Erfolg. Es gab natürlich Widerstand
und Befremden. Neue Methoden, neue Kundenprofile, neue Marketingstrategien:
Da jedoch alles im Dienst des Ziels der Eigenständigkeit geschah, einem
Ziel, das Kunden, Mitarbeiter und Aktionäre einte, setzten sich die Neuerungen
durch. Das Wissen um die eigenen Ziele und Fähigkeiten schließt das
Wissen um die eigenen Grenzen ein. Und gelegentlich muß man sogar in der
Lage sein, seine Grenzen zu erweitern, hinauszuschieben oder gar zu überwinden.
Es wird immer gesagt, Porsche sei konjunkturunabhängig, da das Unternehmen
einen Luxusartikel herstelle. Das stimmt nicht. In der rezessiven Stimmung des
letzten Jahres gingen die Verkaufszahlen vieler Luxusartikel zurück, während
Porsche ein neu es Rekordjahr schrieb. Als die New Economy - wie jede Revolution
- begann, ihre Kinder zu fressen, und damit ein sehr erheblicher Anteil der
Kundschaft in den USA verlorenging, verschaffte sich Porsche durch neue Vertriebssysteme
und Marketingstrategien eine neue Kundschaft. Die Zahlen blieben gut. Die Grenzen
dessen, was für Porsche machbar schien, wurden verschoben und das Unternehmensziel
erreicht.
Diese Form des Handelns ist, so scheint es mir, paradigmatisch nicht nur für die moderne, globalisierte Wirtschaft, sondern für unsere gesamte Wissensgesellschaft. Seit einiger Zeit erleben wir, daß der Begriff der Informationsgesellschaft durch den der Wissensgesellschaft verdrängt wird. Dahinter verbirgt sich eine ähnliche Entwicklung wie die, die bei den Wirtschaftsexperten langsam zu der Erkenntnis führt, daß die Position des David unter gewissen Umständen eine günstigere Perspektive bietet als die des Goliath. »Wenn Größe das entscheidende Kriterium wäre«, sagt Wendelin Wiedeking, »müßten die Dinosaurier heute noch leben.« Ganz so einfach ist es vermutlich weder in der Evolution noch in der Wirtschaft. Trotzdem zeigt sich hier der Grundgedanke des Davidprinzips. Nicht Größe, nicht Masse, nicht Macht allein sichert das Überleben und den Erfolg, sondern eine realistische Einschätzung der eigenen Stärken, Schwächen und Grenzen sowie das Können, diese behutsam und mit Erfolg auszuweiten: Flexibilität, Innovationskraft, Schnelligkeit, das Wissen darum, daß jedes Unternehmen, egal was es produziert, nicht in einem hermetischen Wirtschaftsraum agiert.
Spezifisches Wissen ist also gefragt, nicht eine Fülle von Informationen, die im Zweifelsfall eher hinderlich als förderlich ist. »Ein Großteil des Wissens, das den Sozialstaat in der Wissensgesellschaft bereits regiert und in Zukunft vermehrt regieren wird, ist ... ein Wissen über spezifische Märkte: kurz Marktwissen. Selbst auf dem scheinbar so marktfernen Feld der auf Umverteilung und Marktkorrektur gerichteten Sozialpolitik setzt sich zunehmend Marktwissen als dominante Wissensart durch.« Was der Politikwissenschaftler Frank Nullmeier hier beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die »prudentia oeconomica« des Davidprinzips.
Wiedeking ist ein Vorreiter dieses Wandels, das ist sein Geheimnis. Zum Marktwissen
gehört auch ein Wissen um den Kontext, in dem sich ein Unternehmen, eine
Marke bewegt. Für den Konzernchef bedeutet das zum Beispiel, auf Hilfestellungen,
die man nicht braucht, zu verzichten. Eine solche
Haltung weckt nicht unbedingt die Sympathie der Kollegen. Wiedeking hat sie
den Vorwurf eingebracht, er betreibe das Geschäft des Großaktionärs
und damaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piech, als er BMW dafür
kritisierte, Subventionen für den Bau einer Fertigungsanlage in den neuen
Bundesländern angenommen zu haben. Er selbst hatte fast 100 Millionen Mark,
die ihm und dem Konzern nach den geltenden Regeln zugestanden hätten, abgelehnt,
als er das neue Werk in Leipzig baute. »Stütze und Luxus gehen nicht
zusammen«, war die Begründung. Auch dahinter steckt strategische
Klugheit: Auf diese Weise bewahrt der Porsche-Manager seine Unabhängigkeit,
die dann auch dazu führen kann, daß er, wenn es ihn langweilt oder
wenn er es für ineffektiv hält, von den Tischen, an denen die Goliaths
der Republik aus Politik und Wirtschaft sitzen, einfach aufsteht und geht. Die Aktionäre unterstützen die gelegentlich eigenwillige Vorgehensweise
des Vorstands, denn diese, so Wiedeking im Spiegel-Interview, führe dazu,
»daß Porsche sozial akzeptiert ist«. Gleichzeitig verwahrt
er sich dagegen, andere Wettbewerber als schwarze Schafe zu brandmarken, und
bezeichnet sein Davidprinzip als »das gesellschaftspolitische Gebot bei
leeren Staatskassen«.
»In die kurzatmige Betrachtung, die sich an Quartalszielen orientiert, wollen wir erst gar nicht hineinkommen.« Dies zur Begründung, warum es bei Porsche keine Quartalsberichte gibt. Der Grundsatz, die Grenzen und Spielregeln falls notwendig zu erweitern, schließt ein, auch dieses heilige Dogma der Aktionärsreligion für das eigene Unternehmen abzulehnen. Porsche unterrichtet mit mehr als 40 Nachrichten über den Verlauf des Geschäftsjahres. Mit den flotten Flitzern ist die Firma in einem sehr saisonalen Geschäft tätig, warum sollte sie dann falsche Befürchtungen wecken durch eine rote Quartalsbilanz im flauen Winter? Auch wenn es ihn die Notierung am MDAX kosten sollte: Einmal überzeugt nach der Logik des Davidprinzips, bleibt Wiedeking dabei - und ist dabei nicht Spielball, sondern schafft sich selbst die Spielregeln.
Wenn es stimmt, daß diese Art des Handelns die adäquaten Lösungen für die Probleme der heutigen Wissensgesellschaft bietet, dann haben Politik und Wirtschaft die gemeinsame Aufgabe, die Strukturen des Davidprinzips durchsichtig und für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Verhältnisse wie zwischen David und Goliath gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen schließlich zur Genüge. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
Auch die Grünen haben ein Leben als David geführt und damit Erfolg gehabt. Als sie Anfang der achtziger Jahre mit ihrem Programm die politische Bühne betraten, dachte kein Goliath aus den etablierten Parteien ernsthaft daran, daß aus dieser »Protestpartei« einmal eine Regierungskoalition, ein Außenminister und eine Vielzahl von politischen Konzepten hervorgehen würden. Dabei haben auch wir uns den Gegebenheiten stellen und unsere Ziele an ihnen ausrichten müssen. Wir haben - wenn man so will - neue »Geschäftsfelder« und »Marketingstrategien« erschlossen: Steuerreform, Mittelstandspolitik, die Vereinigung von Ökologie und Ökonomie, Arbeitsplätze durch moderne Umwelttechnik. Und auch wir standen vor der schwierigen Aufgabe, trotz aller Veränderungen und »Übernahmeversuche« die eigene Identität zu wahren. Letztlich vollzog sich dieser Wandel nach den Grundpfeilern des Davidprinzips. Das Wissen um die eigenen Grenzen. Die Fähigkeit, mit diesem Wissen die gesteckten Ziele zu erreichen. Der Versuch, im Spannungsfeld zwischen Grenzen und Können die Selbstbegrenzungen vorsichtig ein Stück weit zu verschieben.
In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft scheinen demnach dieselben oder zumindest ähnliche Strukturen wirksam zu sein. Allein schon deshalb ist es sehr interessant, die Eigenständigkeit und den Erfolg der Luxusmarke Porsche und das Davidprinzip des herausragenden Unternehmensführers Wendelin Wiedeking weiterzuverfolgen.