REZZO SCHLAUCH

Parl. Staatssekretär a.D.

Rezzo Schlauch
WELT, 27. Oktober 2022

Grüner als Boris Palmer geht es nicht

Unser Autor war lange Grünen-Fraktionschef, heute ist er Boris Palmers Anwalt. Er sagt: Es zeuge von politischer Blindheit, dass seine Partei einen der erfolgreichsten Oberbürgermeister Deutschlands schmähte. Nun, nach Palmers Wahlsieg, hätten die Grünen ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Ein denkwürdiger Wahlabend in Tübingen. Mit einer absoluten Mehrheit kann sich Boris Palmer zum dritten Mal in Folge im ersten Durchgang in der Wahl um das Oberbürgermeisteramt in Tübingen durchsetzen - diesmal mit 52,4 Prozent. Eine glasklare Sache also, die ihm weitere acht Jahre im Rathaus bescheren wird.

Mit einem maximalen Kollateralschaden für alle drei grünen Parteiebenen allerdings: Für die Stadt und den Kreisverband Tübingen und den Landesverband Baden-Württemberg mit ihren verantwortlichen Funktionären.

Letztere haben sich für Führungsaufgaben ins Abseits geschossen. Wie politisch blind muss man sein, anstatt das Pfund eines der erfolgreichsten Oberbürgermeister der Republik mit seiner eindrucksvollen grün-ökologischen- und innovativ-ökonomischen Bilanz auf das grüne Parteikonto zu buchen, diesen mit einem Parteiausschlussverfahren zu überziehen.

Doch damit nicht genug. Per Mitgliederbefragung nominierten sie Frau Dr. Ulrike Baumgärtner als offizielle grüne Parteikandidatin - mit einem mauen Ergebnis von 55 Prozent wohlgemerkt, und das ohne Gegenkandidatur. All dies mit schriller diskreditierender öffentlicher Begleitmusik inklusive Gesetzes-und Satzungsverstößen gegen Palmer, dessen Profil in der Stadt und bundesweit so nachhaltig grün ist, wie es grüner nicht geht.

Die Angriffspunkte der grünen Parteikandidatin ("weniger Rambopolitik") und der aus Berlin von der SPD eingeflogenen und von der FDP unterstützten weiteren Mitbewerberin Sofie Geisel, die mit ähnlicher Stoßrichtung antrat ("Führung braucht Stil"), haben nicht verfangen. Beide blieben mit einem Abstand von jeweils 30 Prozentunkten zum Gewinner Palmer auf der Strecke. Und auch die von Teilen der Medien in der Wahlberichterstattung akribisch über ein Jahrzehnt zusammen gesammelten und in endlosen Schleifen wiederholten verbalen Palmerschen Querschläger unter gütigem Weglassen seiner Erfolge, haben das Wahlpublikum nicht beeindruckt.

Die Tübinger Wählerinnen und Wähler wählten nicht den Stil, sondern die Ergebnisse von Führung des Amtsinhabers, die beeindruckend sind:

Da sind 40 Prozent Aufwuchs von qualifizierten Arbeitsplätzen in innovativen Feldern, bei gleichzeitiger 40-prozentiger Reduktion von CO2. Da ist das bundesweit beachtete erfolgreiche Tübinger Modell im Corona-Lockdown, das den Tübingern im Unterschied zum Rest des Landes durch eine offensive Teststrategie Bewegungsfreiheit sicherte. Da ist das Stadtwerk, das durch einen vorausschauenden, offensiven Ausbau der erneuerbaren Energien bestens für die Energiekrise gerüstet ist, und zudem ein Konto von einer Million Euro für Haushalte vorhält, die ihre Energierechnungen nicht zahlen können. Viele andere Stadtwerke müssen um einen Rettungsschirm betteln. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass Tübingen die Stadt in Baden-Württemberg war, die am schnellsten Flüchtlinge aus Sammelunterkünften in nach ortsüblichen Standards neugebaute Wohnungen überführt hat.

Das sind nur wenige von vielen Spitzenpositionen, die Tübingen im Sozialen in der Stadtökologie und Stadtökonomie einnimmt. Ein Tübinger Bürger hat das am Wahlabend, an dem Hunderte den Sieg Palmers gefeiert haben, so formuliert: "Palmer ist vielleicht kein Oberbürgermeister der Herzen, aber einer der Hirne." Treffender geht´s nicht.

Neben Boris Palmer, gibt es weitere augenfällige Gewinner: Die Demokratie und die politische Kultur. Mit seinem streitbaren Stil, der manches Mal auch entgleist, was er dauerhaft abstellen muss, hat Tübingen eine bei Kommunalwahlen um 20 Prozent über dem Durchschnitt liegende außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung (64 Prozent). Dies spricht nicht für den oft zu lesenden dramatisierenden Befund einer "zerrissenen", oder "gespaltenen" Stadt, sondern für eine lebendig demokratische Stadtgesellschaft.

Zur DNA der Grünen gehört auch das offene Austragen von Kontroversen, das auch mal "gegen den Strich Bürsten", was durch die mannigfache Regierungsbeteiligung Gefahr läuft, verloren zu gehen. Eine auf glatten Mainstream abgeschmirgelte grüne Partei wird verwechselbar und verliert an Anziehung.

Und eine grüne Partei, die gebetsmühlenartig die Vielfalt der Gesellschaft propagiert und in ihrer innerparteilichen Kultur Menschen mit unterschiedlichen Temperamenten, Profilen und politischen Positionen, sofern sie sich im verfassungsrechtlichen Bogen bewegen, keine Beinfreiheit und keinen Aktionsradius einräumt, bekommt ein heftiges Glaubwürdigkeitsproblem. Was nach Außen propagiert und von der Gesellschaft eingefordert wird, muss Innen eine Selbstverständlichkeit sein.

Aus alldem sollten die grünen Entscheider in der Stadt und im Kreis Tübingen und auf Landesebene, ohne viel Zeit zu verlieren, mit sich zu Rate gehen: ob es klug ist, einen von Tübingen und bundesweit als par excellence anerkannten "grünen" Oberbürgermeister weiterhin als ruhendes Mitglied zu führen. Oder ob es nicht klüger ist, ein zusammen verabredetes Verfahren in Gang zu setzen, an dessen Ende man sich wieder gemeinsam auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner konzentrieren kann.

Das ist für mich die Botschaft des denkwürdigen Wahlabends in Tübingen.

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