Rezzo Schlauch
Südkurier, 22. Februar 2025
Wie laufen Koalitionsverhandlungen wirklich ab?
Rezzo Schlauch gibt Einblicke hinter die Kulissen
Rezzo Schlauch, 77, war als Grünen-Politiker von 1984 bis 1994 Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg und anschließend bis 2005 Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Von 1998 bis 2002 war er Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, ehe er Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit wurde. 2005 zog er sich aus der Politik zurück. Er lebt heute in Stuttgart. (sk)
Der frühere Grünen-Politiker war an Koalitionsgesprächen beteiligt und hat in führender Funktion erlebt, worauf es ankommt: Wer eine Legislaturperiode bis ins Detail vorausplanen will, stößt immer öfter an Grenzen.
Im Oktober 1998 unterzeichnen die zuvor neu mehrheitlich gewählten Regierungsparteien Rot-Grün ihren Koalitionsvertrag, der ihre Regierungsagenda der nächsten vier Jahre festlegt. Die Kapitel zur Außenpolitik, Nato und äußeren Sicherheitspolitik sind vorher dünn und inhaltlich unauffällig. Keine sechs Monate später steht der Bundestag vor einer - heute würde man sagen - disruptiven Entscheidung: Soll die Bundeswehr an einem Kriegseinsatz der Nato gegen Serbien teilnehmen oder nicht?
Das Ergebnis ist bekannt. Die rot-grüne Regierungsmehrheit hat dem Kriegseinsatz zugestimmt und damit eine der tiefgreifendsten Änderungen der deutschen Nachkriegspolitik eingeleitet.
Dieser zeithistorische Rückblick macht deutlich, worauf es bei der Bildung und dem erfolgreichen Agieren von Regierungskoalitionen ankommt: Der Koalitionsvertrag ist nicht das Evangelium, als das es von den Partnern oft behandelt wird, sondern nur ein Baustein einer Koalition, aber bei Weitem nicht der Wichtigste. Politik wird durch externe Ereignisse geprägt, die nicht vorhersehbar und deshalb auch nicht von den Koalitionspartnern vorab ausgehandelt werden können. Die zitierte Entscheidung war im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen - wie hätte es auch sein können?
Erschütterte Sicherheitsarchitektur
Ähnliche Beispiele gibt es auch in jüngerer Zeit: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die gesamte Sicherheitsarchitektur Europas erschüttert. Oder das Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Umwidmung von Corona-Finanzmitteln vereitelte und damit die Geschäftsgrundlage der Ampel-Koalition für den Haushalt obsolet machte. Beide Ereignisse trafen die Ampel unvorbereitet und führten, mangels einheitlicher Reaktion der Partner, mit zum Scheitern der Regierung.
Grundsätzlich gilt, dass Parteien der demo0kratischen Mitte - CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP - untereinander gesprächsfähig und koalitionsfähig sein sollten. Die rechtsextreme AfD und die Putin-freundliche, stalinistisch organisierte Kaderpartei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gehören ausdrücklich nicht in diese Reihe. Dieser Grundsatz wird durch die verschiedenen Koalitionen in den westlichen Bundesländern bereits Realität. Doch im aufziehenden Bundestagswahlkampf zeichnet sich eine gegenläufige Tendenz ab: die sogenannte "Ausschließeritis".
Taktisch aufgeladene Aussagen
Im Wahlkampf schließen Parteien der demokratischen Mitte Koalitionsmöglichkeiten aus oder diskreditieren konkurrierende Parteien dermaßen, dass Gesprächsebenen zerstört werden. Paradebeispiel: Söder schließt kategorisch eine Regierungskoalition zwischen Schwarz und Grün aus, obwohl genau diese Kombination in drei Bundesländern erfolgreich regiert. Solche taktisch aufgeladenen Ansagen engen nicht nur den eigenen Handlungsspielraum ein, sondern gefährden den demokratischen Grundkonsens.
Die Auswirkungen sind in Ostdeutschland zu besichtigen: In Sachsen reicht es nicht mehr für eine Mehrheitsregierung unter den demokratischen Parteien, und in Thüringen scheitert die CDU sogar mit der Kaderpartei BSW im Koalitionsboot an einer Mehrheit. Stattdessen verständigt sie sich mit der im Vergleich dazu pragmatischen Linken von Fall zu Fall - trotz eines Unvereinbarkeitsbeschlusses. Stoff, aus dem Politikverdrossenheit wächst.
Ob demokratische Parteien der Mitte tatsächlich zusammenarbeiten können, zeigt sich in der Regel in den Sondierungsgesprächen. Diese Vorverhandlungen legen den Grundstein für Koalitionsverhandlungen, indem Eckpunkte so weit abgesteckt werden, dass alle Partner eine klare Vorstellung davon entwickeln können, welche politischen Projekte und Prioritäten realistisch umzusetzen sind.
Seit den großen Koalitionen auf Bundesebene - als SPD und CDU/CSU das Land mit wechselhaftem Erfolg regierten - hat sich jedoch eine Entwicklung hin zu immer längeren und detaillierteren Koalitionsverträgen etabliert. Projekte werden heute oft bis ins Kleinste vorgeplant, und die politische Arbeit einer Koalition wird während der Legislaturperiode darauf reduziert, diesen Vertag abzuarbeiten.
Berechenbar ist nur die Unberechenbarkeit
Spätestens seit der corona-Pandemie stößt diese Herangehensweise an ihre Grenzen. Die Berechenbarkeit von politischen Prozessen ist längst einer neuen Realität gewichen: Berechenbar ist nur noch die Unberechenbarkeit.
Die zentrale Währung jeder Koalition ist Vertrauen - und die Bereitschaft zu tragfähigen Kompromissen. Leider ist der Kompromiss in der deutschen politischen Kultur oft negativ besetzt, obwohl er die Königsdisziplin demokratischen Handelns darstellt. Oder wie es der Politologe Kurt Sontheimer formulierte: "Es sind die Kompromisslosen, die unsere Freiheit bedrohen, nicht die Kompromissbereiten."
Zum gegenseitigen Vertrauen gehört auch Verlässlichkeit. Wenn getroffene Verabredungen zwischen Partnern regelmäßig aufgekündigt werden und stattdessen Maximalpositionen öffentlich gemacht werden, wie es in der verflossenen Ampel häufig geschah, zerstört dies jede gedeihliche Zusammenarbeit.
Unvorhergesehene Ereignisse wie Kriege, Krisen oder wirtschaftliche Schocks verlangen nicht nur schnelle und effektive Lösungen, sondern eröffnen oft auch die Chance zu einer notwendigen Kurskorrektur. Ein übermäßig detaillierter Koalitionsvertrag kann sich dabei als Hindernis erweisen. Vielmehr muss ein solcher Vertrag als dynamisches Instrument gestaltet sein, das den Partnern die Flexibilität erlaubt, auf veränderte äußere Gegebenheiten zu reagieren, ohne ihre gemeinsame Richtung aus den Augen zu verlieren.
Unsicherheiten machen Planbarkeit unmöglich
Diese Erkenntnisse werden auch die Verhandlungen für den nächsten Koalitionsvertrag, ab März oder April 20925, prägen. Die globalen Unsicherheiten - von der weiteren Entwicklung der USA unter Trump bis hin zur geopolitischen Rolle Chinas unter Xi Jinping - machen eine langfristige Planbarkeit nahezu unmöglich. Koalitionen müssen daher ihre Verhandlungen mit dem Verständnis führen, dass die gemeinsame Regierungsarbeit nicht in der Detailtreue des Vertrags, sondern in der Stabilität und Belastbarkeit ihrer Beziehungen und Prinzipien begründet liegt.
Besonders wichtig wird sein, eine klare Priorisierung vorzunehmen, um in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben. Gleichzeitig sollten Mechanismen etabliert werden, die es ermöglichen, auch in kontroversen Themenfeldern schnell Konsens zu finden.
Die Qualität der Verhandlungen und ihre Ergebnisse entscheiden damit nicht nur über die Stabilität der Regierung, sondern auch über das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die politische Handlungsfähigkeit er demokratischen Mitte. Außerdem gilt es, in den Verhandlungen eine Balance zwischen den Interessen der einzelnen Partner und dem gemeinsamen Ziel zu finden. Nur wenn diese Balance gelingt, können Koalitionen den Herausforderungen einer zunehmend fragmentierten politischen Landschaft standhalten.